Weh-Geh-Weh
Willis Gourmet Werkstatt
Vierschänkentournee Teil 14 (De Karmeliet)
Über den Verfall jeglicher Sitten im Fernsehen hat der Igel sich schon vielfach ausgelassen. Jeder hat da sein Fett
weg bekommen, sei es der allgemeine Menschenzoo im Privatfernsehen, seien es die öffentlich-gemächlichen
Sender mit ihren grenzdebilen Morgenmagazynikern, dem Musikantenhades des Andy Cyborg und dem
Wepperschen Nonnentätscheln zur besten Sendezeit. Bleibt zur Erfüllung des Grundversorgungsauftrags also im
Wesentlichen das Radio. Könnte man denken. Wenn man kein Radio hört. Denn wenn man doch Radio hört und
den Apparat einschaltet, dann erlebt man Erstaunliches.
Auf SWR 3 wird beispielsweise seit Monaten Eiscreme an die Hörerschaft verteilt. Sehr ehrenwert, gerade bei der
Hitze, keine Frage. Nur leider geschieht das von meinen Zwangsgebühren. Wo genau steht eigentlich, dass der
Grundversorgungsauftrag des Rundfunks auch die Fütterung von Bürofachangestellten des mittleren
nichttechnischen Sparkassendienstes mit Süßwaren umfasst? Versorgung mit Nahrungsmitteln? Wäre das nicht
eher ein Fall für die Sozialhilfe? Und wäre nicht auf eine etwas gesündere Ernährung zu achten, so dass man
vielleicht Gurken, Radieschen oder ähnliches austeilen sollte?
Zwischendrin werden dann Elche verlost. Die natürlich ebenfalls von meinen Gebühren angeschafft und versandt
werden. Inklusive eines eingebauten Mechanismus, der den Elch röhren lässt. Grunzversorgungsauftrag
sozusagen. A propos Grunzen - ich bin medizinisch nicht bewandert genug, um über die Therapierbarkeit von
Logorrhoe Auskunft geben zu können. Doch sollte man in schweren Fällen nichts unversucht lassen. Und dem
Großteil derjenigen, die da an den Mikrophonen des Südwestrundfunks humorfrei vermodern (daher der Name
"Moder-ator") eine Gruppentherapie verordnen. Besonders gruselig wird es, wenn das nächste "New Pop Festival"
bevorsteht. Was eigentlich immer der Fall ist. Dann wird nicht nur im Zehnminutentakt die Veranstaltung wortreich
angekündigt, sondern zwischendrin über Monate nur das Zeug der dort auftretenden Künstler gespielt, was eine
angenehme Abwechslungsfreiheit im Programm sicherstellt.
Und dann wird dem Faß die Krone ins Gesäß gerammt, indem SWR3 seine Moderatoren auf Kosten des
Zwangsgebührenzahlers an beliebte Reiseziele dieser Welt schaffen lässt, so dass sie von dort über die Menschen
berichten können, die z.B. in Monaco Urlaub machen. Offizielle Begründung: "Wir sorgen dafür, dass die Leute,
die sich selbst keinen Urlaub leisten können, auf diese Weise wenigstens das Gefühl bekommen, ein wenig an
den exotischen Reisezielen gewesen zu sein." Sagt mal, SWR, habt Ihr noch alle Latten an dem Zaun, der bei
Euch um das Elchgehege gebaut worden ist? Habt Ihr vielleicht auch mal drüber nachgedacht, dass etliche der
Menschen, die sich keinen Urlaub leisten können, auch deswegen zu klamm für größere Reisen sind, weil sie ja
mit den Zwangsgebühren Eure Eispartys und die Kinderlandverschickung Eurer infantilen Reporter bezahlen
müssen? Auf solche Radioaktivitäten kommt ja wohl nur, wer komplett verstrahlt ist.
Mal ganz abgesehen davon, dass der Verzicht auf diesen Schwachsinn auch dazu führen würde, dass Ihr mit
weniger Werbeeinnahmen auskämt. Ich fände es beispielsweise hochgradig verschmerzbar, wenn künftig auf die
Ausstrahlung der Werbespots der Firma Seitenbacher verzichtet würde. Von Haus aus kein Anhänger der
öffentlichen Flagellation, überdenke ich diese Haltung mehr und mehr, je öfter ich den Kerl zu hören bekomme,
der mir in breitestem Schwäbisch im Stundentakt durch zur Kunstform erhobenen Infantilismus die Lust nicht nur
an den Produkten seiner Firma, sondern an Müsliprodukten insgesamt nachhaltig verleidet. Kann der nicht statt
dessen erklären, wie cool Tätowierungen sind. Das würde dieser Unsitte ein wenig Einhalt gebieten, schätze ich.
Nun ist es im Privatradio auch nicht besser. Da wird über Monate "das rätselhafte Geräusch" gesucht, rufen Sie
jetzt an und raten Sie mit, für nur 99 Cent aus dem Festnetz. Oder schmeißen Sie Ihr Geld gleich in die Mülltonne,
denn natürlich kommt sowieso keiner durch. Und erkennt auch niemand das Geräusch. Weil man das gesuchte
Geräusch - Kriechen einer Nacktschnecke über einen Zahnstocher - allzu leicht mit dem Sound verwechselt, den
eine Brillenkobra beim Schielen erzeugt. Oder ein Elch beim Eisessen.
Dafür gibt es im Privatradio Regionalnachrichten. Eventuell heißen die auch "News". Je provinzieller sie sind, desto
größer das Risiko, dass man ihnen einen englischen Namen verpasst. Da wird dann brühwarm über abgefahrene
Lifestylefacts aus der unmittelbaren Umgebung berichtet. Also zum Beispiel dass sich Oma Erna aus dem
Nachbardorf beim Einparken den Außenspiegel abgefahren hat. Wow!
Und so ungefähr in dem Moment, in dem man den Glauben an die Kompatibilität des eigenen Anspruchsniveaus
mit der Bodenlosigkeit des im Rundfunk Dargebotenen zu verlieren beginnt, in dem Moment schaltet man
versehentlich im Fernsehen den Sender Deluxe Music ein. Reibt sich verwundert die Ohren, hört genauer hin,
reibt noch einmal die Ohren und beschließt recht schnell, die meisten anderen Sender zu löschen. Denn bei
Deluxe funktioniert Musikfernsehen genau so, wie es der Herrgott gewollt hat. Höchst abwechslungsreiches
Programm, mit ganz wenigen Ausnahmen moderationsfrei. Nur dienstagsabends halten die sich da für zwei
Stunden eine von Kopf bis Fuß tätowierte Moderatöse, die intellektuell leider auch ins öffentlich-verächtliche
Konzept passen würde. Ansonsten wenig Werbung, insbesondere keine Spots von Seitenbacher. Es werden
keine Tiere verteilt und auch kein Eis. Warum auch?
Meine persönliche Lieblingssendung steigt freitags und samstags gegen 22:30 Uhr. Da werden mehrere
Musikclips zusammengemischt. Ausgesprochen originell, fast immer addiert sich das und ergeben sich erstaunliche
Kompositionen, die auf wundersame Weise das Ausgangsmaterial nicht ruinieren, sondern perfekt und
überraschend verbinden. Wenn Bee Gees und Roxette zusammenfinden, eine Prise hiervon, ein Hauch davon, im
Abgang vielleicht noch eine Messerspitze Eurythmics unergerührt, dann ist es wie die Cuvée eines guten
Champagners. Oder wie feine Sterneküche. Um die es in meiner kleinen Gourmetwerkstatt ja eigentlich gehen soll.
Was für eine Überleitung zu Geert van Hecke und seinem "de Karmeliet" in Brügge! Dort war ich kürzlich mit der
besten Igelin von allen. Ein Traditionshaus. Das merkt man schon an den sehr unterschiedlichen aber
außerordentlich ansprechenden Gemälden an den Wänden - in Flandern wohl eine geradezu zwangsläufige
Hommage an die große kunsthistorische Vergangenheit. Dazwischen viele Blumen, liebevoll arrangiert, die
Handschrift der Dame des Hauses. Aufmerksamer Service, echte Anrichtekunst auf den Tellern, eher traditionelle
Küche - klingt nach einer Adresse, an der sich der Fressigel wohlfühlen könnte.
Feiner Champagner zum Apero - van Hecke hält es mit den Häusern aus der zweiten Reihe. Die sind aber gut
ausgesucht und fair bepreist. Prima! Dazu gibt es hauchdünne Kartoffelchips mit etwas frisch darüber gehobeltem
Käse. Originell und sicherlich gewagt, wenn man es mit Gästen zu tun hat, die mit Dreisterneerwartungshorizont
ins Lokal einfallen. Aber pfiffig gemacht und sehr schmackhaft. Treffer!
Danach marschieren viererlei Amuses auf: Erstens ein Spinatraviolo mit Ricotta und Honigmandeln. Sehr gut,
intensiver Spinatgeschmack, die Mandeln geben natürlich den Kick, so dass insbesondere der Ricotta im wahrsten
Sinne des Wortes aus dem Quark kommt, gefällt mir. Zweitens Tatar mit einem weiteren Kartoffelchip - gut aber
mehr nicht. Drittens Kaisergranat mit Tomatencoulis und Pastisschaum. Was nicht wirklich funktioniert, weil der
Pastis zu sehr im Hintergrund bleibt, so dass es ein guter Granat aber eben keine Granate war. Viertens
Mozzarella mit Kräuterpesto und essbaren Blumen. Was nun sehr simpel klingt, am Gaumen aber der absolute
Oberhammer war. Kräftiger Käse, würziges Pesto und deutlich schmeckbare Akzente der Blumen, die ideal mit dem
Pesto und dem Käse harmonierten.
Als ersten Gang brachte die Küche uns eine marinierte Makrele mit leicht warmem King Crab-Sushi,
Gemüsestreifen und Zucchiniparfait auf Tomatenspiegel. Großartig angerichtet, Archimboldo lebt, was für ein
Gemälde! Am Gaumen leider nicht ganz so überzeugend, die Makrele schmeckt etwas seefischig vor und das
warme Sushi kann leider auch nicht überzeugen. Sicher nicht auf dem Niveau der drei Sterne, die der Michelin
über das Haus gehängt hat.
Deutlich aufwärts ging es dann mit der Langoustine Royale mit gebratener Gänseleber und marinierter Aubergine.
Ganz hervorragend, die Langoustine nicht grillbitter, nicht so mehlig, wie man sie sonst leider allzu häufig
bekommt. Sondern perfekt auf dem Punkt, saftig und geschmacksintensiv. Und die Leber zeigte einmal mehr, dass
sie es auch mit Fisch aufnehmen kann. Sehr interessant, originelle Harmonie, ähnlich gut wie kürzlich in den USA
genossen. Wäre mir glatte drei Sterne wert gewesen, hätte man nicht eine Algen-Zitronen-Infusion drüber
geschüttet, Dashi genannt und leider deutlich angeräuchert, so dass die feinen Aromen von Langoustine und
Leber ziemlich zu kämpfen hatten, um nicht vom Teller gefegt zu werden. Und schwupp waren es nur noch zwei
Sterne. Der Igel, schreibt es Euch hinter die Ohren, Köche der Welt, ist Nichtraucher, auch beim Essen!
Den dritten Stern schraubte ich dann an den nächsten Gang, die Dombes-Wachtel mit paniertem Kalbsbries,
Morchelrisotto, Spargel und einem Quader aus Wachtelkeulen und Schweinsfuß. Lediglich ein eher kleinkariertes
Monitum: Das Morchelrisotto war kein solches, da keine Morcheln drin waren, sondern nur reichlich Morchelrahm
angegossen worden war. Nebendran lag dann zum Ausgleich pro Teller aber noch exakt eine separat gegarte
Morchel. Immerhin eine sehr ausgewachsene. Insgesamt eine außerordentlich gelungene Neuinterpretation des
Klassikers Bries/Spargel/Morchel(n), angereichert noch durch die würzige Wachtel, einmal allein, einmal im
Verbund mit dem Schweinsfuß. Perfekt aufeinander abgestimmte Aromen, was bei der Vielzahl der Zutaten kein
Selbstläufer ist. Kräftige aber nicht erschlagende Sauce. Großes Kino!
Vor dem Dessert fuhr eine Ladung erstklassiger Mignardises auf. Ein Bordeauxcanelle von denkwürdiger
Souplesse! Ein Birnenküchlein mit Kokosschaum, sehr fein, hätte vielleicht noch einen Hauch intensiver sein
dürfen. Ein weltklassiges Bananentörtchen mit Spekulatiuslikör - innovative Kombination, das funktioniert
sensationell gut. Vier bis fünf Sterne dann für den Minzeschaum mit Himbeere auf Granatapfelvanillecreme,
unfassbar intensiv und schon wieder eine Kombination, die ich so vorher noch nie hatte. Schließlich noch ein
Marshmellow mit Schokopops und eingelegter Quitte. Nun ist das Verhältnis des Igels zu Marshmellows kaum ein
besseres als seine Beziehung zu räuchrigen Saucen. Dieses Häppchen rettete sich aber vor dem Verriss durch die
leichte Pfeffrigkeit der kandierten Quitte. Die machte das Ganze unerwartet interessant.
Oberste Liga dann auch das erste Dessert: Erdbeeren und Erdbeergranité an sahniger Basilikumcreme,
Kokosnussparfait, Kuchenteigeis, Kuchenkrümel. Wieder ein Gemälde auf dem Teller. Gleichermaßen sagenhaft am
Gaumen, das Eis schmeckte tatsächlich wie Kuchenteig. Das erlaubt jedem frühkindlich Traumatisierten, der bei
Muttern nicht ausgiebig genug vom Teig hatte naschen dürfen, das Versäumte nachzuholen und mental zu
gesunden. Van Heckes Desserts auf Krankenschein, ich glaube, ich habe den Dreh gefunden! Die
Kuchenelemente und das Kokosparfait peppen zugleich die altehrwürdige Kombination von Erdbeeren mit
Basilikum noch einmal richtig auf. Perfekt komponiert!
Genau wie das zweite Dessert: Sahnige Vanillecreme, bezuckergusste Haselnüsse, vanilliger Milchreis,
Schokolade, Schokoladenkrümel, Kaffeecreme und Kaffeeeis. Hier wird ein Leitmotiv deutlich, das mir auch bei
einem vorherigen Besuch in der Karmeliet schon aufgefallen war - die Desserts geraten grundsätzlich
komponentenreich. Und Kuchenkrümel sind fast immer irgendwo mit drin. Dabei schafft die Patisserie des Hauses
es zuverlässig, dass alle Elemente wunderbar miteinander spielen, sich gegenseitig unterstreichen und nie zum
Overkill werden. Das kennt man sonst nur von Pierre Gagnaire.
Begleitet hat das Ganze ein Condrieu Les Chaillets von 2009 aus dem Hause Cuilleron. Ganz große Sache. Einer
der wenigen Weißweine, denen ich Holzeinsatz verzeihe, weil er das Holz einfach verträgt. In der Nase hinter der
Vanille im Anklang buttrige Floralnoten, Zitrus, sehr feingliedrig und trotzdem druckvoll. Am Gaumen fast
verhalten, noch immer zu jung! Mit Luft kommt er dann aber, quittig im Anklang, das ist dem Holz geschuldet, dann
die rebsortentypischen Noten, konfitierte Ananas, Birne, viel Florales. Unter der Blumenwiese sanfter Alkohol,
dann wieder Margeriten, dazu süßliche Zitrusaromen, ungemein dicht und wunderbar lang. Im Abgang tief und
sehr, sehr nachdrücklich, die Quitte spielt mit der immer cremiger werdenden Birne und dem zarten Alkohol. Passt
fast zum gesamten Menü, nur bei den Desserts tut er sich etwas schwerer, da musste dann glasweiser Süßwein
her.
Insgesamt ein hocherfreuliches Gourmeterlebnis. Nach der kleinen Enttäuschung beim Fischauftakt freute ich
mich an einem der besten Hauptgerichte ever, bevor es in ohne schuldhaftes Zögern in den Dessert- und
Mignardiseshimmel ging. Igelchens Mondfahrt! Alles nicht verkünstelt, auch nicht wirklich klassisch, eher eine
modernisierte Klassik, die aber komplett auf Brausekrümel und molekularen Blödsinn verzichtet. Genau der
richtige Ansatz, weil es noch Saucen gibt (vergessen wir mal das Dashi). Faire Preise! Für das fünfgängige
Abendmenü werden 140 Euro aufgerufen, für 50 Euro mehr werden noch Käse und zwei weitere Fischgänge
ergänzt. Die Weinkarte ist - außer in der glasweisen Abteilung - leider etwas Grand Cru-lastig. Wenig
Schnäppchen, die Koeffizienten sind fast durch die Bank etwas zu hoch. Aus Deutschland leider vor allem
2008er, beim Elsass steht der nicht allzu gelungene Jahrgang 2000 im Mittelpunkt. Dennoch wird man
unproblematisch etwas Gutes finden. Im Ergebnis gehen für mich die drei Sterne in Ordnung, obwohl es nicht
eines der besten Häuser dieser Klasse ist und der dritte Stern nicht bei allen Gängen verdient war.
Dafür war anderes so großartig, dass man gerne das Igelauge zudrückt, Zumal ich die Rechnung ja sowieso an
den SWR und ans Lokalradio geschickt habe. Gourmetfutter fällt ja wohl allemal unter Grundversorgung, jedenfalls
beim Fressigel - und rätselhafte Geräusche hat mein vollgeschlagener Magen hinterher auch gemacht. Jetzt
anrufen, für nur 99 Cent aus dem Festnetz, raten sie mit!