Weh-Geh-Weh
Willis Gourmet Werkstatt
Vierschänkentournee Teil 17 (Arpege)
Paris! Schon wieder Paris! Ausgerechnet Paris! Brutale Anschläge, über 130 Tote, nicht einmal ein Jahr nach der
Katastrophe von Charlie Hebdo. Paris, ausgerechnet Paris. Wieder im Namen des Islam, wieder im Namen der
Religion. Ausgerechnet in der Stadt, die wie keine zweite Profil gewonnen hat im Kampf gegen den Missbrauch der
Religion für illegitime Partikularinteressen. In Paris hat 1789 die französische Revolution ihren Anfang genommen
und damit die erste echte Demokratiebewegung in Kontinentaleuropa. Von Paris aus wurde der Kontinent von der
illegitimen Fürstenherrschaft befreit. Und nicht nur die weltlichen Fürsten wurden abgeräumt, auch die
Kirchenfürsten. Jene Kirchenfürsten, die über Jahrhunderte verkündet hatten, ihr Gott wolle es, dass die breite
Bevölkerung darbt, hungert und verarmt, um den Fürsten, den weltlichen wie den geistlichen, ein Leben in Saus und
Braus zu ermöglichen. Paris hat den Aufstand gewagt. Auch gegen die geistlichen Fürsten, die sich wohl ähnlich
schwer getan hätten, in der Bibel eine Rechtfertigung für ihre Prunksucht, ihre Verschwendung und ihr ekelhaft
korruptes Leben zu finden wie die IS-Krieger sich schwer täten, im muslimischen Glauben eine Rechtfertigung für
Mord und Totschlag zu finden.
Paris, die Stadt der Freiheit. Paris und Frankreich haben uns allen Freiheit und Demokratie geschenkt. Natürlich ist
diese Entwicklung nicht linear verlaufen, hat es gedauert, bis ganz Europa vom Geiste der Volksherrschaft
angesteckt war. Und natürlich hat es Rückschläge gegeben, auch in Frankreich selbst, mit dem Überschnappen
des Freiheitsgeistes in die Terrorherrschaft, mit zwei Kaiserreichen und mit der Monarchie von 1815. Aber den
Geist der Freiheit haben die Franzosen in Paris und in Versailles aus der Flasche gelassen und niemandem ist es
je gelungen, ihn wieder in die Flasche zu sperren. Jenen Geist der Freiheit, der Paris noch über viele Jahrzehnte
prägen sollte. Die Befreiung der Kunst ab der Mitte des 19. Jahrhunderts ging auch von Paris aus. Die
Impressionisten und ihr Gefolge haben den akademischen Lehren den Stuhl vor die Tür gestellt, haben auch der
Kunst die Freiheit geschenkt. Bürgerliche Motive wurden gesellschaftsfähig, auch auf der Leinwand und in der
Skulptur wurde der Herrschaft monarchischer und geistlicher Sujets erfolgreich der Kampf angesagt. Jahrzehnte
danach haben die Existenzialisten den nächsten Schritt getan und sich ganz von Religion zu befreien versucht,
Gott für tot erklärt und den Nihilismus erfunden. Egal ob man diese radikale Sichtweise teilt oder nicht, sie konnte
nur in Paris entstehen, nur dort bestand die freiheitliche Tradition, die Tabubrüche dieser Größenordnung erlaubte.
Ja, der Freiheitsgeist steht im Frankreich von heute nicht mehr ganz so in der ersten Reihe. Denn Freiheit heißt ja
immer auch weniger Staat, weniger Regulierung, weniger Gerüst. Und im Frankreich von heute hat man sich ganz
bequem mit einem Sozialstaat eingerichtet, von dem man ein politisch-gesellschaftliches Rundum-sorglos-Paket
erwartet. Die höchste Staatsquote der führenden Industrienationen, die höchsten Mindestlöhne, die höchsten
Renten, die höchsten Steuern, am meisten Regulierung, das alles ist nicht gerade ein Ausweis von großer Freiheit
und großer Eigenverantwortung. Frankreich ist ein Land, das ein wenig schizophren zwischen diesem Glauben an
den Staat einerseits und einer noch immer quicklebendigen Szene des Individualismus, der Innovation, des nach
seiner Facon glücklich werdens“ andererseits hin und her pendelt. Das gilt auch für Paris. Die Stadt erfindet sich
täglich neu, auch getrieben von den Regierenden. Das drückt sich unter anderem in architektonischer Avantgarde
aus, man schaue sich nur die neuen Hallen im Zentrum oder die neue Fondation Vuitton im Bois de Boulogne an.
Paris erlaubt Innovation, fordert sie sogar, es hält aber gleichzeitig konservativ-beruhigend an seinen Traditionen
fest. Die architektonische Innovation wird Haussmanns Paris nicht verdrängen, die Hochküche wird weiter ihren
Platz haben, im Olympia werden weiter die Chansonniers auftreten und Notre Dame wird weiter Wache über die Ile
de la Cité halten. Manch einer übersieht die Neuerungen und erklärt Paris zum Museum, zur Stadt von gestern.
Manch einer traut den spätgallorömisch dekadenten Franzosen nicht mehr zu, den Freiheitsgeist wieder zu finden,
der sie einst ausgezeichnet hat.
Aber keine Sorge, wenn der Terror zuschlägt, besinnt man sich in Frankreich auf die historischen Traditionen. Viel
hat das Land in dieser Hinsicht auch in der Vergangenheit erdulden müssen. Schon in den Achtzigern gab es eine
Anschlagserie, Bomben in Kaufhäusern, in der U-Bahn, auf öffentlichen Plätzen. Auch damals führte die Spur in die
Welt islamischer Fanatiker. Und auch damals hat man sich nicht ins Bockshorn jagen lassen. Charlie Hebdo hat
man überstanden, den direktesten terroristischen Anschlag auf die Meinungsfreiheit, den es in der Geschichte der
Menschheit gegeben hat und den Anschlag sogar genutzt, um über gelebte Solidarität ein Zeichen für die Freiheit
zu setzen. Nach Charlie Hebdo war ich dreimal in Paris und bereits wenige Wochen nach dem Anschlag hatte die
Stadt zu sich zurück gefunden, als wäre nichts geschehen! Auch diese neuen Anschläge wird man überstehen,
Paris wird Paris bleiben und Frankreich wird Frankreich bleiben. Gerade Paris wird die Stadt bleiben, die jedem das
geben kann, was er sich von ihr wünscht. Eine Projektionsfläche für Romantiker, ein Ort, an dem man die Welt neu
erfinden, sich verwirklichen und ausprobieren kann, zugleich ein Lordsiegelbewahrer von Traditionen und ein Motor
von Innovationen, neben London und Berlin eine der drei Weltstädte des europäischen Kontinents. Für mich die
schönste Stadt Europas, weil sie ihre Schönheit nicht nur in ein paar architektonischen Highlights scheinen lässt,
sondern flächig über die Stadt ausgießt, verschwenderisch und reich. Aus welcher Metro-Station auch immer man
aussteigt, ein Blick auf das Umfeld genügt, man weiß sich sofort in Paris. Moderne und Tradition verbinden sich
nirgendwo so elegant, man denke nur an La Defense, wo man das Motiv der Triumphbogens zitiert und gleichzeitig
doch etwas völlig Neues schafft. Oder an die Louvre-Pyramide, ein architektonisches Zitat aus der ägyptischen
Abteilung des Museums und gleichzeitig innovativ. Ja, Paris kann elegant, kann stimmig, kann harmonisch wie keine
zweite Stadt. Paris hat Geschmack, hat Lebensart, hat Kultur. Dieses Paris ist vielleicht nicht unsterblich, es ist
aber ganz sicher nicht von ein paar Irren tot zu kriegen.
Es muss weiter gehen, es wird weitergehen. Ich habe am Tag des Anschlags gleich die nächste Frankreichreise
gebucht, es wäre doch gelacht! Und der heutige Beitrag in meiner kleinen Gastro-Tournee behandelt natürlich ein
Restaurant in Paris, was sonst?!
Im Arpege war ich mal wieder, bei Alain Passard, der gefühlt auch schon bei der französischen Revolution dabei
war, so lange kocht er schon mit an der Spitze der französischen Sterneküche. Zwischendrin hatte er mal eine
Phase, da gab es bei ihm nur vegetarische Gerichte, Küchenrevolution in der Sternegastronomie. Der Michelin hat
es toleriert, die drei Sterne blieben erhalten und sicherlich hat er in der Zeit jede Menge Erfahrungen gesammelt,
wie man aus profanen Dingen wie Kartoffeln oder Tomaten kulinarische Hochgenüsse herauskitzelt. Die Karte von
heute profitiert davon. Denn auch wenn Fleisch und Fisch längst wieder Einzug gehalten haben, widersteht
Passard der Versuchung nicht, mit vielen kleinen Gemüsehappen zu zeigen, was auch tierfrei so alles geht.
So fährt als erstes Amuse ein Beignet von Pak Choi auf, mit Steinpilz, Knoblauch und Petersilie abgerundet,
großartig! Danach folgen drei Tarteletts mit Tartar“, ein rotes, bei dem der Tartar aus Geranien, Radieschen und
Rotkohl besteht, ein gelbes, bei dem der Tartar aus Karotten und Mais zusammengebastelt wurde, und ein grünes,
wo Gurke, Salbei und Minze in den Tartar gewandert sind. Alles vegetarisch und alles sehr fein. Tiefgründige
Aromen, perfekt miteinander verbunden, nicht alle Komponenten konnte man wirklich herausschmecken, doch
wenn man es genau wissen will, hat man einen ausgesprochen kompetenten Maitre im Saal, der jede Frage gerne
beantwortet.
Saal ist an sich schon zu viel gesagt, das Lokal ist eher ein Raum, verwinkelt, klein, die Tische stehen auch ein
wenig eng und manchmal müssen die Kellner in ballettähnlichen Figuren zwischen den Tischen hindurchwuseln und
die ohnehin nicht vorhandenen Bäuche einziehen, wenn auf der Strecke zur Küche Gegenverkehr entsteht. Hier
könnte Jogi Löw wirklich mal etwas über innovative Laufwege und das Zumachen von Räumen lernen. Steif kann
der Service hier nicht werden, zum Glück ist er es auch im übertragenen Sinne nicht, selten wird man in der
Hochküche so herzlich und zugleich professionell betreut wie im Arpege! Etwas mehr Raum um den Gast herum
wäre trotzdem ganz nett, aber was soll er tun, der Herr Passard, dann müsste er umziehen, denn mit noch weniger
Tischen rechnete sich das Arpege sicher nicht. Wobei, der Herr Savoy hat es gerade vorgemacht, umziehen ist
gar nicht so schwer. Schade wäre es um das sehr klassische Dekor, hellbraunes Holz an der Decke und an den
Wänden, nicht komplett vertäfelt, dazwischen sorgt viel weiße Fläche für eine etwas lichtere Optik. Sehr elegant
das Ganze. An sich ist es trotz der Enge gemütlich, also lege ich das Thema Volk ohne Raum mal ad actas.
Und vertiefe mich erst einmal in die Weinkarte. Mittelgroße Auswahl und sehr faire Koeffizienten. So günstig kommt
man in der Dreisterneabteilung in Paris sonst nur noch bei Pierre Gagnaire an exzellente Weine, da lacht das
Igelherz. Kein Wunder, die Menüs sind mit 270 und 350 Euro am Abend auch schon recht mutig bepreist, da muss
man über den Wein nicht mehr viel hereinwirtschaften, um den Laden profitabel zu halten. Alain Passard schaut
auch kurz am Tisch vorbei und verkündet Ich habe heute tolle Gemüse und ich werde für Sie kochen“ Ja,
zumindest letzteres hatte ich eigentlich erwartet. Insgesamt ist mir der Chef eher zuviel im Saal, das geht oft schief.
Hier aber nicht, denn nun kommt ein Meisterwerk! Einer der Klassiker des Hauses, das Ei mit vier Gewürzen.
Neben den Gewürzen haben auch noch schaumige Sahne und etwas Schnittlauch den Weg ins Ei gefunden. Das
einfach nur perfekt ist. Perfekt gewürzt, voll auf dem Punkt, etwas süßlich und zugleich nussig-pfeffrig. Perfekt in
der Textur, das cremige des Eigelbs verträgt sich bestens mit dem Schaumigen der Sahne. Denn Schnittlauch
nimmt man fast nicht wahr, so intensiv ist das alles. Wirklich nur vier Gewürze? Unglaublich! Welche? Man erfährt es
nicht. Hier verweist auch der Maitre auf seine Schweigepflicht. Allein dieses Ei lohnt die Reise an die Seine, beim
Barte des Propheten! Grandios!
Auf dem Niveau kann es nicht weitergehen, völlig klar. Der als nächstes servierte Hummer in süßsaurer Sauce mit
Honig und dünnen Scheiben von weißen Rüben, funktioniert nicht wirklich perfekt. Auf dem Teller kämpft die süße
Sauce, die vor allem aus dem Honig besteht, mit einer sauren Sauce, in der der Essig die Hauptrolle spielt, weißer
Balsamico zwar, aber dennoch sehr säuerlich. So richtig harmonieren die beiden Saucen nicht, so dass das Ganze
etwas zu laut und zu vordergründig wirkt. Nicht schlecht, aber halt nicht ganz auf Dreisterneniveau. Auch mein Foto
streikt zwischendrin, so dass es kein Bild dazu gibt.
Besser gefällt mir der folgende Gang, Tagliatelle aus Sellerie, abgeschmeckt mit Haselnüssen und Semmelpilzen
(pieds de mouton). Sellerie und Nuss, ja das funktioniert seit der Erfindung des Waldorfsalats recht zuverlässig und
es passt auch hier sehr gut. Zudem habe ich Spaß dran, dass die Selleriestreifen wirklich wie Tagliatelle aussehen,
gelungener Gag! Und die zitronierte Sahnesauce arrondiert den Dialog zwischen dem Gemüse und der Nuss sehr
fein, passt zu beidem, schafft eine zusätzliche Verbindung. Nur die Pilze werden ein wenig unsanft in den
Hintergrund geschoben, weil die Dosierung für normale Tagliatelle perfekt gewesen wäre, zum Anstinken gegen die
sehr intensiven Selleriestreifen aber nicht ganz ausreicht. Dennoch eine überzeugende Kreation! Zum Glück
meldete sich mein Foto zurück, bevor sie ganz aufgegessen war.
Die beste Igelin von allen futterte derweil ein Ei. Dessen Eigelb mit einem Hauch Stör abgeschmeckt und
zabaioneartig aufgeschäumt worden war, nur ohne Zucker. Wieder zurück ins Ei gefüllt, einen Klecks Kaviar
obendrauf, fertig! Die dazu gereichte Kartoffel "sous la cendre" rundete eher ab als dass sie akzentuiert hätte.
Köstlich dafür die Blini-Brioche, also eine aus Briocheteig gebackene Köstlichkeit in Form einer etwas zu dick
geratenen Blini. Auch hier stimmte alles, absolute Perfektion in der Abstimmung kennzeichnet diese Küche.
Mein nächster Gang kam direkt aus dem Olymp. Ein mit Georgspilzen (Mousserons) und Morcheln gefüllter Raviolo,
der in einer leicht getrüffelten Morchelrahmsauce badete, garniert mit Pfifferlingen und reichlich Morcheln. Die
Sauce traf ganz genau den schmalen Grat der absoluten Morchelperfektion. Denn wenn man den Geschmack aus
den Pilzen herauskocht, gibt es ja so einen Moment, wo man mit weiterer Konzentration den Geschmack nicht
mehr intensiviert, sondern wo die Sache ins Unterholzige, Ledrige umkippt. Eine Nanosekunde vorher muss man
rechts abbiegen, den Sud vom Herd nehmen und einen Böllerschuss Sahne unterrühren. Genau das hat Guérards
Truppe perfekt hinbekommen. Jedes Haucherl Morchel mehr wäre zuviel gewesen, um jedes Milligramm weniger
wäre es schade gewesen. Bester Morchelrahm seit dem Pleistozän und damit eine auch in der Höhe verdiente
Entschädigung für das Morcheldesaster in der Bresse. So etwa seit dem Pleistozän stellt Guérard dieses Zeug wohl
auch schon genau so her, bereits bei meinem ersten Besuch Mitte der Neunziger hatte ich dieses Gericht. Daraus
wird kein Geheimnis gemacht. Der Maitre hat bei Aufnahme der Bestellung schon darauf hingewiesen, dass die
Karte eine Art "best off" aus 50 Jahren Guérard-Küche darstelle. "Dieses Gericht hat Monsieur Guérard 1989
kreiert" sagt er da schon einmal. Oder "ah, eine sehr gut Wahl, das ist eine Schöpfung aus dem Jahr 2008". Was
vielleicht die Frage aufwerfen mag, ob man, um die drei Sterne zu verteidigen, stetig Neues erfinden muss. Oder
darf man sich auch (fast) ausschließlich wiederholen? Man darf! Jedenfalls beim Gourmetigel. Diesen
Morchelraviolo hier möchte ich auch in zwanzig Jahren bitte genau so noch einmal bekommen! Und wenn einer ein
Repertoire von hunderten köstlichster Gerichte hat, dann kann er gerne diese Dinge abwechselnd immer weiter
servieren und auf die Teilnahme an neuen Moden verzichten.
Als nächstes kamen Gemüseravioli auf den Tisch, in einer Consommé von Rotkohl und Karotten. Wieder so ein
Stück aus der Gemüseküche und wieder eine überzeugende Sache. Man darf sich nur nicht von der Consommé
täuschen lassen, die so für sich ein wenig fad wirkt. Der Igel ist ja kein Teetrinker, insofern braucht es für ihn auch
keine teeigen Suppen oder Saucen. Kaum ist aber der erste Raviolo erlegt und die perfekte gewürzte, waldpilzige
Füllung am Gaumen, schon passieren zwei Dinge. Erstens ein Kniefall vor der Füllung und zweitens die Erkenntnis,
dass die Füllung auch der Consommé zu höherer geschmacklicher Reife verhilft. Gemeinsam sind sie stark, mein
lieber Freund!
Nun folgte ein ganz leicht geräucherter Hummer in einer nobelpreiswürdigen Estragon-Safran-Sauce. Der Igel ist ja
bekanntermaßen Nichtraucher, auch wenn das gesundheitsschädlich ist. Sieht man am Schmidt, der sofort
gestorben ist, nachdem er das Rauchen aufgegeben hatte. Aber was ich eigentlich sagen will - bleibt mir weg mit
der heftigen Räucherei. Diese Mode greift in den letzten Monaten ziemlich um sich, genauso wie der Scheiß mit
der Fermentiererei. Das sind wohl die Brausekrümel des Jahres 2015. Aber der Herr Guérard ist ja schon viel zu
lange im Geschäft als dass er es übertriebe. Bei ihm ist der Rauch nur ein Hauch, und das lasse ich mir gerne
gefallen. Zumal diese Komposition aus Estragon und Safran, die ich in dieser Form noch nirgendwo anders
bekommen habe, ein solches Feuerwerk zündet, dass man ohnehin versucht ist, vor dem Teller in die Knie zu
gehen. Dabei habe ich die halbflüssige Creme von Zwiebel und Pfirsich noch gar nicht erwähnt, die in einer
ausgehöhlten Zwiebel neben dem Hummer ihren Platz gefunden hat. Jasackzement, was ist das denn für ein
grundgeniales Zeug! So unfassbar gut, dass man seinen Papillen kaum traut. Zum Hummer und zur Sauce passt der
Stoff auch noch, wo ist die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, wenn man sie braucht? Höchste Suchtgefahr!
Zur Erfrischung wurde dann ein Holunderblütengranité gereicht. Schlicht perfekt! Nicht zu süß, ungemein
cassisfruchtig. Besser geht nicht, da werden selbst diejenigen sofort katholisch, die Sorbets ganz protestantisch als
Zwischengänge ablehnen oder als überholte Mode der Achtziger empfinden.
Mir stellte der Kellner als nächstes ein Rinderfilet vor die Nase, das mit perfekten Rotweinzwiebeln und Pommes de
Terre Soufflées auf den Tisch kam. Also so eine Art Kartoffelluftballons, die ungefähr so viel heiße Luft und so
wenig Substanz enthalten wie eine durchschnittliche Ansprache von Fußballkaiser Franz. Das Manko an Kalorien
wird durch den opulenten Kartoffelschnee ausgeglichen, der sich unter den göttlichen Luftballons verbirgt.
Zusammen eine Köstlichkeit, erst recht, wenn man die superbe Rotweinsauce dazu nimmt. Ich hoffe, diese
Beilagen stehen irgendwo im Lehrbuch, denn da gehören sie hin! Auch das Fleisch ist perfekt gegart. Wieder einen
Tick geräuchert, liebe Leute, lasst das nicht zur Regel werden, es braucht kein Mensch. Dennoch ein sehr schöner
Hauptgang, weil wiederum das Rauchige nur eine Nuance bleibt.
Die beste Igelin von allen labte sich derweil an einem sautiert-getoasteten Kalbsbries, auf das man eine Marmelade
von schwarzen Oliven aufgebracht hatte. Die einzige Kombination an einem ansonsten großartigen Abend, die
nicht ganz geglückt war, denn die Oliven spielten das Bries ein wenig an die Wand. Dafür ließ die samtige Spargel-
Erbsen-Creme den Atem anhalten. Das war keine Beilage, das war ein Hauptdarsteller. Genial abgeschmeckt,
wunderbar kräutrig, wer weiß, was da alles hineingewandert ist. Akzente sowohl des Spargels als auch der Erbsen
blieben zwischen Kräutern und Gewürzen klar herausschmeckbar, grandios! Vielleicht ein Kabinettstück aus
Guérards Cusine Minceur? Kaum ein anderer Chef versteht es so perfekt, die geschmackliche Essenz aus
Gemüsen und Kräutern zu ziehen, zu potenzieren und zu perfektionieren. Nicht einmal der geniale Alain Passard,
den ich im nächsten Teil meiner kleinen Gastrodyssee besuchen werde.
Mein Dessert spielte rund um die Schokolade. Ein mehr als perfektes Soufflé, das die Igelaugen heller leuchten
ließ als einen Scheinwerfer im Fernsehstudio. Auch das dazu gereichte Kaffeeeis war sehr auf dem Punkt, beides
wurde verbunden von mit Kaffee abgeschmeckten Schokoladen-Keksen. Dazu gab es eine sehr intensive
Kakaocreme. Ganz exzellent, aber die beste Igelin von allen hatte eine noch bessere Wahl getroffen.
Obendrauf setzte es noch einige Mignardises, hausgemachte Madeleines mit Kräuteraromen, eine superbe
Schokoladenpraline und hervorragende Fruchtgeleehappen.
Insgesamt ein Abend hart am Rande der Perfektion. Zu der auch beiträgt, dass die Weine sehr fair bepreist sind.
Grandiose Auswahl, alle Spitzen des Bordelais sind vertreten, aber man findet nicht nur high end. Den Condrieu
von Perret gibt es für 100 Euro, mehr kostet auch die Flasche Roséchampagner von Billecart-Salmon nicht, den
Tursan aus dem hauseigenen Weingut Baron den Bachen bekommt man für 45 bis 50 Euro, je nach Jahrgang.
Menüs für 195 und 240 Euro, kein Schnäppchen aber absolut angemessen, dafür bekommt man bei der WM-
Vergabe nicht einmal eine Hundertstelstimme von einem FIFA-Funktionär!
Wichtiger: Die Legende lebt, das Denkmal Guérard funktioniert auch im jugendlichen Alter von 82 Jahren bestens.
Anders als Blanc und Blatter hat der Mann sich einen hochbegabten Second engagiert, der so langsam die Zügel
übernehmen wird. Ob der Übergang reibungslos laufen wird? Ob das Klassikerkonzept dann erhalten bleibt? Ob der
Michelin dann weiter drei Sterne über dem Haus stehen lassen wird? Schwer zu prognostizieren. Deswegen, liebe
Leute, fahrt bald hin, wir leben im Jetzt und jetzt ist ein Abend bei Guérard ein grandioses Erlebnis! Noch immer
eines der sieben, acht besten Häuser in Gallien!
Sie bekam ein Eisenkrautsoufflé, das zu spontanen Kniefällen mit spontaner Verneigung nötigte. Absolut auf dem
Punkt, nicht floral, nicht seifig, fruchtig, elegant, intensiv, sensationell! Dazu ein köstliches Himbeercoulis und eine
Nocke Eisenkrauteis, die im Soufflé versenkt wurde - mit der Anweisung des Maitres, sie dort erst einmal schmelzen
zu lassen. Weltklasse!