Weh-Weh-Weh
Willis Wein Werkstatt
Gebietswinzergenossenschaft Rheinfront
Verkostet im Dezember 2012
"Ach wie süß! Putzig! Das müsst Ihr unbedingt anschauen!" Ruft Irma immer wieder einmal, wenn man mit ihr
einkaufen geht. Und dann weiß man, jetzt ist ABC-Alarm! Alle Mann in Deckung, Aktentasche über den Kopf und
Gasmaske auf! Aber, ach, Ihr kennt Irma ja wahrscheinlich gar nicht? Irma ist die Frau eines lieben Freundes und
Irma, ja, wie soll ich es sagen, Irma hat einen sehr speziellen Geschmack. Irma ist in der Lage, in einem
fußballplatzgroßen Inneneinrichtungshaus mit absoluter Zuverlässigkeit innerhalb von Sekunden, den
hässlichsten Einrichtungsgegenstand ausfindig zu machen. Und wenn ich hässlich sage, dann meine ich Dinge,
die ohne weiteres einen atomaren Erstschlag gegen den Hersteller rechtfertigen würden.
So weit, so gut. Beängstigend ist allerdings, dass Irma die von Ihr aufgefundenen geschmacklichen
Massenvernichtungswaffen zuverlässig als "niedlich" oder "reizend" apostrophieren und zur weiteren
Verschandelung ihrer Wohnung käuflich erwerben wird. Auch das ließe sich noch ertragen, schließlich besuche
ich Irma und ihren Mann nur selten und führe dann zur Sicherheit ein halbes Dutzend Sonnenbrillen mit, die ich
bei Betreten der Wohnung übereinander aufsetze.
Leider ist es aber auch damit noch nicht getan. Irma wird das fassungslose Einrichtungshaus auffordern, weitere
Exemplare ihrer Trouvaille nachzubestellen. Diese werden sodann an Irmas Freunde verschenkt. In der klaren
Erwartung, dass die Freude diese Großzügigkeit mit dem selben entzückten "süß" oder "putzig" honorieren und die
Geschenke nicht etwa in die Restmülltonne entsorgen, sondern ebenfalls zur Dekoration der heimischen vier
Wände nutzen. Hoffnung auf Rettung gibt es nicht, selbst Amnesty International hat aufgegeben.
Inzwischen bin ich draufgekommen, wie man dennoch gewinnbringend mit Irma einkaufen gehen kann. Ihr müsst
Sie nur als "Kontraindikator" nutzen. Wenn Ihr zögert, ob Euch ein, na sagen wir mal Teppich gefällt einfach das
Ding kurz Irma zeigen. Und wenn sie auch nur ansatzweise in Verzückung gerät, dann wisst Ihr, nein, dieser
Teppich, auf dem können gerne ein halbes Dutzend Entwicklungsminister aus Afghanistan dahergeflogen
kommen, in meine Wohnung darf ich den trotzdem nicht lassen!
Tja, wenn man da eine Weile lang drauf rumdenkt, dann kommt man sehr schnell drauf, dass die Welt eigentlich
voll von solchen Kontraindikatoren ist. Da gibt es reihenweise Menschen und Institutionen, bei denen weiß man
wenn die etwas gut finden, kann es nichts für mich sein. Hier mal eine unvollständige Liste:
-
Bettina Böttinger
- Heribert Prantl
- Sonja Zietlow, Sonya Kraus und viele andere Sonj/yas
- Die taz
- Nicolas Mbele aus Kenya, der mir zu meinem Lottogewinn gratuliert
- Herbert Grönemeyer
- Xaver Naidoo, sowie alle diejenigen, die den Xaver vor dem Naidoo so aussprechen wie das englische
Saviour
- Oskar Lafontaine
- Nena
- ehemalige wie amtierende Generalsekretär(inn)e(n) der CDU oder der SPD
- Moderatoren von 9live
- Kandidaten bei Fernsehcastingshows
- Sozialpädagogen
- Menschen, die ihre Mitte suchen
- Sozialpädagogen, die ihre Mitte suchen
- Österreicher
- Volksmusiksänger
- österreichische Volksmusiksänger
- österreichische Volksmusiker mit Sozialpädagogenausbildung, die ihre Mitte suchen
- Holländer
- Fans von Bayern München
- Vegetarier
- Bela Rethy
- Kleriker (außer wenn es um Wein geht)
- FDP-Politiker (außer wenn es um Alkoholika jeder Art geht)
- Mitarbeiter der Bahn AG oder der Deutschen Post
- Holländische Mitarbeiter der Bahn AG, die Mitglied der FDP sowie Fan von Bayern München sind,
Sozialpädagogik studiert haben, ihre Mitte suchen und als Vegetarier Volksmusik machen
Soweit die vorläufige Liste. Die könnte ich noch Stunden fortsetzen. Aber eigentlich wollte ich ja etwas über
Wein erzählen. Denn auch beim Wein gibt es ja Kontraindikatoren.
-
Erstens: Man kaufe nie einen Wein von der Genossenschaft!
- Zweitens: Man kaufe keine deutschen Weine mit goldener Kammerpreismünze, die kriegt ja schließlich fast
jeder zur Prüfung angestellte Wein! Und wenn ein Erzeuger es nötig hat, damit zu werben, ist ihm sowieso
nicht mehr zu helfen!
- Drittens: Man kaufe keine deutschen Weißweine außer Riesling!
- Viertens: Man kaufe keine Rheinhessenweine von vor 1990!
- Fünftens: Man kaufe keine Weine aus Katastrophenjahrgängen wie 1967
- Sechstens: Man kaufe keine Weine aus alten Großlagen
So gesehen gibt es gleich sechs gute Gründe, den 1967er Dienheimer Tafelstein Silvaner hochfeine Auslese
Cabinet von der Bezirkswinzergenossenschaft Rheinfront, ausgezeichnet mit der Goldenen Kammerpreismünze,
nicht zu trinken. Ich habe den Wein aber trotzdem mal versucht. Und feststellen müssen, dass meine
Kontraindikatoren manchmal nur sehr beschränkt funktionieren. Haus und Hof hätte ich verwettet, dass das
Zeug nicht mehr genießbar sei, wenn es das denn jemals gewesen sein sollte. Aber dann...
Nase leicht karamellig, Rosine, eine Spur rauchige Botrytis, nicht viel, gerade so eine Spur minzige Kräutrigkeit
verleiht sie dem Wein. Dazu auch eine Prise Schwarztee. Dominantes Leitmotiv bleibt aber der honigartige
Karamell. Davon steht jede Menge vor den Rezeptoren herum, füllt mindestens zwei Gottschalknasen (Mensch,
den Gottschalk habe ich oben auf der Liste vergessen, Mist!) und macht richtig Druck.
Am Gaumen verhaltene Süße, auch hier findet sich die botrytische Rauchigkeit wieder, do-siert, nicht
erschlagend, dazu ein florales Element, das mich am ehesten an Lilienblüten erinnert. Der Karamell wirkt etwas
verhaltener, taucht nur in der Mitte kurz auf und erlebt ganz am Ende noch einmal eine kleine Auferstehung. Sehr
gute Länge, in Würde gereift, ein eleganter Wein, alles andere als zu alt, harmonisch, sehr fein. Vielleicht ein
wenig zu schlank, vor allem hinten heraus? Doch da kommt mit etwas Luft noch eine sehr ausdrucksstarke
kräutrige Süße zum Vorschein nach dem Karamell kommen plötzlich diese Kräuter aus der Deckung, fast schon
opulent, durchaus noch ziemlich frisch und sogar tiefgründig.
Wow, der kratzt in der Summe sogar an den 90 von 100 Willipunkten. Am Ende notiere ich mir eine 89 und für
das neue Jahr den guten Vorsatz, bei den Kontraindikatoren etwas vor-sichtiger zu werden, zumindest bei den
oenologischen...
Zwei Tage später gab es übrigens noch den Niersteiner St.-Kiliansberg aus gleichem Haus, gleichem Jahr und
mit gleicher Kammerpreismünze. Fast ebenso gut, wenn auch etwas schlanker und weniger nachhaltig, 86 von
100 Willipunkten.
Heute auf der Hebebühne: Gebietswinzergenossenschaft Rheinfront