Bienvenida
Willi Igel in Andorra
Die Pyrenäen, das weiß man, das ist bekannt, sind eine karge Landschaft, da gibt es nicht viel. Höchstens ein paar Radfahrer, die die Tour de France nachspielen und sich auf ihren
Rennrädern über den Tourmalet, den Aspin, den Aubisque oder den Peyresourde den Wolf strampeln. Dieser Wolf wird dann in einem Nebental freigelassen, zieht nach Roncesvalles
und heult nachts an der Rolandsscharte das Rolandlied.
Oder er tritt in Gevaudan als Nebendarsteller im Pakt der Wölfe“ auf. Irgendwann werden aber sogar dem Wolf die Pyrenäen zu langweilig und zieht er weiter in die nach ihm
benannten Gorges du Loup, Richtung Cote dAzur, da fühlt er sich wohler, denn da kann er, wenn der kleine Hunger kommt, die Geissens reißen. Damit würde er der Menschheit
wahrscheinlich einen ziemlichen Dienst erweisen, aber das steht auf einem anderen Blatt.
In den Pyrenäen bleibt nicht viel zurück, wenn der Wolf erst einmal weg ist. Das eine oder andere Kirchlein, wie die zauberhafte Prieuré von Serrabona, ein paar Abteien, zum Beispiel
St.-Martin du Canigou, viele Berge, oft hufeisenförmig aufgestellt, damit der Tourist im Panorama möglichst viele davon auf einmal sehen kann, wie etwa im Cirque de Gavarnie.
Tja, und dann ist da noch Andorra. Größter europäischer Zwergstaat. Was immer das sein soll, der größte Zwerg. Wenn man die Fotos
betrachtet, die die Andorraner selbst ins Internet stellen, dann sieht das ganz nett aus, alte Kirchlein, beschauliche Weiden, viel Natur. Das alles
sucht man vor Ort allerdings eher vergeblich. Andorra scheint vielmehr einem Roman von Frank Schätzing entsprungen zu sein. Bei dem
kommt es ja gerne mal vor, dass aus der Reihe tanzende mutierte Organismen ganze Landschaften überwuchern, alles Leben zunichtemachen
und alles verschlingen, was sich ihnen in den Weg stellt. Der Organismus, der das mit Andorra gemacht hat, heißt Duty Free Shop. Das ganze
Land scheint eine einzige Kaffeefahrt zu sein. Gelegenheiten zur Teilnahme an einer Verkaufsveranstaltung wohin man blickt. Schon mehrere
Kilometer vor der Hauptstadt Andorra la Vella beginnt der Rückstau, der sich hinter den Schranken der Parkhäuser des Zentrums bildet.
Etwa 75.000 Einwohner hat der Zwergstaat, davon haben nur die Hälfte die andorranische Staatsbürgerschaft, die anderen stammen aus
Spanien oder Frankreich und sind damit beschäftigt, Zigaretten, Parfums und Alkohol an tausende von Tagestouristen zu verhökern, die für 50
Euro Benzin verfahren, um 20 Euro beim Einkauf ihrer Suchtmittel zu sparen. Bäckereien? Metzgereien? Restaurants? Alles Fehlanzeige, der
Duty-Free hat sie erstickt, hat sie aufgesogen, hat sie platt gemacht.
Training für die Tour de France
Für ausgedehnte Shoppingtouren in Andorra
empfiehlt sich ein geräumiges Transportmedium
Die andere Hälfte der Bevölkerung schlürft derweil zollfrei eingekauften Champagner aus den Wasserlöchern der Steueroase Andorra, freut sich an maximal 5 Prozent Umsatzsteuer und einer nicht nennenswerten Einkommensteuer.
Obergrenzen für Steuerflüchtlinge scheint es nicht zu geben, nicht einmal ein Ankerzentrum. Wo sollte man auch ankern, das Meer ist weit und der Hafen an den Ufern der durch Andorra la Vella mäandernden Valira schon von der
andorranischen Kriegsmarine belegt.
Ja, in Andorra kann man gut Geld ausgeben. Deswegen arbeitet die dritte Hälfte der Einwohnerschaft natürlich in der Münzindustrie. Andorra prägt nicht nur eigene Euros, sondern, um die Numismatiker dieser Welt gleich doppelt
abziehen zu können, auch noch den Diner, eine kaum im Umlauf befindliche Operettenwährung. Wahrscheinlich die einzige Währung weltweit, bei der auf den Gedenkmünzen alljährlich die schönsten Duty Free Shops des
Prägelandes abgebildet werden.
Früher hatte Andorra auch mal eine Landwirtschaft, ja sogar eine ganz ordentliche Fußballmannschaft, zweite oder dritte Liga in Spanien, dann allerdings achtmal in Folge abgestiegen. Und es gab Wintersportanlagen, man lebte von
Skitourismus. Alles vorbei, heute wird nichts mehr angebaut und nicht mehr viel gearbeitet, man pflanzt nur noch zollfrei-Läden, mit sehr identischen Sortimenten in die Landschaft. Die Kirchlein sind nicht mehr zu sehen, irgendwo von
Konsumtempeln überwuchert. Gut, nach Dubai muss heute keiner mehr zum Einkaufen fliegen. Das gibts auch in Andorra. Es ist nicht nur der größte Zwergstaat Europas, sondern auch der langweiligste geworden.